KBV-Chef Andreas Gassen fordert öffentlich, homöopathische Leistungen aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen zu streichen. Seine zentrale Begründung: Homöopathie sei nicht evidenzbasiert und dürfe deshalb nicht länger von Beitragszahlern finanziert werden.
Als Journalist habe ich mir diese Argumentation genauer angesehen. Dabei sind mir zwei zentrale Schwachpunkte aufgefallen, die aus meiner Sicht erklärungsbedürftig sind. Genau diese Punkte habe ich nun in einer ausführlichen Presseanfrage an die Pressestelle der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) adressiert.
Die Anfrage begleitet eine offene Briefaktion der Leserinnen und Leser des Homoeopathiewatchblog, die sich direkt an Andreas Gassen richtet. Der Watchblog erreicht rund 100.000 Leser pro Monat. Aktuell haben bereits 53 Menschen unterschrieben – darunter Ärztinnen und Ärzte, Heilpraktiker, Patientinnen und Patienten sowie weitere Homöopathie-Freunde. Weitere Unterschriften kommen täglich hinzu.
Schwachpunkt 1: Der Evidenz-Maßstab wird selektiv angewendet
Gassen reduziert den Evidenzbegriff faktisch auf das Vorliegen belastbarer Studien. Folgt man dieser Logik konsequent, stellt sich jedoch eine grundlegende Frage:
Warum soll dieser Maßstab ausschließlich für Homöopathie gelten?
Im deutschen Gesundheitssystem werden zahlreiche Therapien erstattet, bei denen der Zusatznutzen im Rahmen der frühen Nutzenbewertung nach dem AMNOG ausdrücklich als „nicht belegt“ eingestuft wird. Das ist kein Randphänomen, sondern systemischer Bestandteil der Versorgung. Besonders in der Onkologie werden Therapien erstattet, obwohl belastbare Daten zu Gesamtüberleben oder Lebensqualität bei Markteintritt häufig noch fehlen.
Wenn „fehlende Evidenz“ ein Ausschlusskriterium sein soll, dann müsste diese Logik auf viele Bereiche der Regelversorgung angewendet werden – nicht nur auf Homöopathie. Genau diesen Widerspruch habe ich der KBV zur Beantwortung vorgelegt.
Schwachpunkt 2: Gassen spricht gegen einen Teil der eigenen Ärzteschaft
Als Vorsitzender der KBV vertritt Andreas Gassen alle Vertragsärztinnen und Vertragsärzte. Dazu gehören auch Ärztinnen und Ärzte mit homöopathischer Zusatzqualifikation, die entsprechende Leistungen anbieten und von ihren Patientinnen und Patienten nachgefragt werden.
Wenn der KBV-Chef öffentlich eine politische Linie verfolgt, die darauf hinausläuft, diesen Leistungsbereich aus der GKV-Versorgung zu drängen, entsteht ein innerer Widerspruch:
Eine Interessenvertretung argumentiert öffentlich gegen einen Teil ihrer eigenen Mitglieder.
Es geht dabei ausdrücklich nicht um Schlagworte wie „Berufsverbot“, sondern um die Frage, wie eine solche Positionierung mit dem Vertretungsauftrag der KBV vereinbar ist – und ob es dazu interne Abstimmungen oder Beschlusslagen gibt.
Transparenz statt Schlagworte
Die Presseanfrage an die KBV verfolgt ein klares Ziel:
Die Debatte soll weg von zugespitzten Schlagworten und hin zu einer sachlichen, konsistenten Bewertung geführt werden. Wenn Evidenz das Maß aller Dinge sein soll, dann bitte für alle Bereiche gleichermaßen. Und wenn die KBV politisch Position bezieht, dann muss sie erklären, wie sie dabei mit den Interessen ihrer eigenen Mitglieder umgeht.
Im Folgenden dokumentieren wir vollständig die Presseanfrage an die KBV-Pressestelle, damit sich unsere Leserinnen und Leser selbst ein Bild machen können.
Von: „christian.j.becker.redaktion@homoeopathiewatchblog.de“ <christian.j.becker.redaktion@homoeopathiewatchblog.de>
Betreff: Presseanfrage – Offener Brief an KBV-Vorsitzenden Dr. Gassen zum Thema Homöopathie / Evidenzmaßstab / Vertretungsauftrag der KBV
Datum: 15. Dezember 2025 um 18:52:47 MEZ
An: RStahl@kbv.de
Kopie: THinzmann@kbv.de, info@kbv.de
Presseanfrage an die KBV-Pressestelle
Bitte um schriftliche Stellungnahme
Sehr geehrter Herr Dr. Stahl,
diese Presseanfrage erfolgt im Rahmen einer Leseraktion des Homoeopathiewatchblog. Der Watchblog erreicht rund 100.000 Leserinnen und Leser pro Monat. In Reaktion auf die öffentlichen Forderungen des KBV-Vorsitzenden Dr. Andreas Gassen, homöopathische Leistungen aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung zu streichen, haben Leserinnen und Leser des Watchblogs am 14.12. einen offenen Brief an Herrn Dr. Gassen initiiert.
Zum Zeitpunkt dieser Anfrage haben 53 Personen unterschrieben, darunter Ärztinnen und Ärzte, Heilpraktiker, Patientinnen und Patienten sowie weitere Homöopathie-Interessierte. Der vollständige Wortlaut des offenen Briefs sowie die fortlaufend aktualisierte Liste der Unterzeichner sind öffentlich einsehbar unter:
https://homoeopathiewatchblog.de/2025/12/14/kassenaerztechef-gassen-fordert-gesundheitsministerin-auf-homoeopathie-als-kassenleistung-zu-verbieten-aktion-offener-brief-an-gassen-den-sie-unterzeichnen-koennen/
Am Freitag, 19.12.2025, werde ich diesen offenen Brief mit allen bis dahin eingegangenen Unterschriften an Herrn Dr. Gassen per E-Mail übermitteln.
Begleitend dazu bitte ich die KBV-Pressestelle um eine schriftliche Stellungnahme zu zwei Aspekten der öffentlichen Argumentation von Herrn Dr. Gassen, die aus journalistischer und fachlicher Sicht erklärungsbedürftig erscheinen.
1. Evidenzmaßstab und Konsistenz mit dem bestehenden Nutzenbewertungssystem
Herr Dr. Gassen begründet seine Forderung nach einer Streichung homöopathischer Leistungen aus der GKV im Wesentlichen mit dem Argument, Homöopathie sei nicht evidenzbasiert. Der dabei verwendete Evidenzbegriff wird erkennbar auf den Nachweis der Wirksamkeit über klinische Studien reduziert.
Ein solcher Maßstab ist grundsätzlich legitim. Er wirft jedoch eine Konsistenzfrage auf, da das deutsche Gesundheitssystem selbst an zahlreichen Stellen mit Evidenz arbeitet, die – gemessen an diesem Maßstab – begrenzt, vorläufig oder nicht abschließend ist.
Mit dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) wurde ein formalisiertes Verfahren zur frühen Nutzenbewertung neuer Arzneimittel eingeführt (§ 35a SGB V). In diesem Verfahren bewertet der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) den Zusatznutzen gegenüber einer zweckmäßigen Vergleichstherapie. Eine der ausdrücklich vorgesehenen Bewertungskategorien lautet **„Zusatznutzen nicht belegt“**¹. Diese Einstufung ist systemimmanent und kein Ausnahmefall.
Auswertungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) zeigen, dass ein erheblicher Anteil der frühen Nutzenbewertungen mit der Feststellung „Zusatznutzen nicht belegt“ endet². Auch die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) weist in ihren Analysen darauf hin, dass insbesondere in der Onkologie viele Arzneimittel Teil der Regelversorgung werden, obwohl zum Zeitpunkt der Bewertung kein Zusatznutzen im Sinne der vorgelegten Studien nachgewiesen werden konnte³.
Darüber hinaus ist in der Fachliteratur gut dokumentiert, dass onkologische Zulassungen und frühe Nutzenbewertungen häufig auf Surrogatendpunkten wie progressionsfreiem Überleben beruhen, während belastbare Daten zu Gesamtüberleben oder Lebensqualität bei Markteintritt nicht immer vorliegen⁴. Auch die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) weist ausdrücklich auf diese Problematik hin⁵.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, nach welchen konkret definierten Kriterien der von Herrn Dr. Gassen verwendete Evidenzmaßstab selektiv auf die Homöopathie angewandt werden soll, ohne vergleichbare Konsequenzen für andere Bereiche der GKV-Regelversorgung zu ziehen, in denen die Evidenzlage nach den Maßstäben des AMNOG-Systems ebenfalls begrenzt oder nicht abschließend ist.
2. Vertretungsauftrag der KBV und innere Spannungsfelder
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung ist die gesetzlich verankerte Interessenvertretung aller Vertragsärztinnen und Vertragsärzte. Der Vorsitzende der KBV spricht damit nicht nur als gesundheitspolitischer Kommentator, sondern zugleich als Repräsentant einer pluralen Mitgliedschaft mit unterschiedlichen Behandlungsschwerpunkten.
Die Forderung von Herrn Dr. Gassen richtet sich jedoch gegen einen Versorgungsbereich, den ein Teil der Vertragsärzteschaft – darunter auch Ärztinnen und Ärzte mit homöopathischer Zusatzqualifikation – anbietet und den Patientinnen und Patienten gezielt nachfragen.
Dabei geht es ausdrücklich nicht um den Begriff eines Berufsverbots. Es geht um den organisationspolitischen Spannungsbereich, der entsteht, wenn der Vorsitzende einer Interessenvertretung öffentlich eine politische Linie verfolgt, die faktisch auf die Zurückdrängung eines Leistungsangebots eines Teils der eigenen Mitgliedschaft hinausläuft.
Vor diesem Hintergrund bitte ich um eine Einordnung, wie die KBV diesen Spannungsbereich intern bewertet und ob es hierzu strukturierte Willensbildungsprozesse, Fachgruppenbeteiligungen oder formale Beschlusslagen gibt.
Konkrete Pressefragen
1. Evidenzmaßstab und Konsistenz
Nach welchen konkret definierten Kriterien fordert die KBV bzw. Herr Dr. Gassen die Streichung homöopathischer Leistungen aus dem GKV-Leistungskatalog, wenn zugleich in der bestehenden Regelversorgung zahlreiche Therapien erstattet werden, deren Zusatznutzen im AMNOG-Verfahren als „nicht belegt“ eingestuft ist¹²³?
2. Vertretungsauftrag der KBV
Wie stellt die KBV sicher, dass die Interessen derjenigen Vertragsärztinnen und Vertragsärzte, die homöopathische Leistungen anbieten, im internen Willensbildungsprozess berücksichtigt werden, wenn der KBV-Vorsitzende öffentlich eine gegenteilige politische Forderung erhebt? Gibt es hierzu formale Beschlüsse oder Konsultationen?
Formalia:
Ich bitte um eine schriftliche Stellungnahme bis Donnerstag, 18.12.2025, 12:00 Uhr, damit diese gegebenenfalls in die Berichterstattung zur Übergabe des offenen Briefs am 19.12. einfließen kann.
Mit freundlichen Grüßen
Christian J. Becker
Gesundheitsjournalist
Redakteur Homoeopathiewatchblog.de
Quellen
- Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA): Nutzenbewertung von Arzneimitteln nach § 35a SGB V – Bewertungskategorien („Zusatznutzen nicht belegt“).
https://www.g-ba.de/themen/arzneimittel/arzneimittel-nutzenbewertung/ - Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ): Frühe Nutzenbewertung nach AMNOG – Ergebnisse und Einordnung.
https://www.akdae.de/Arzneimitteltherapie/AMNOG/ - Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO): Frühe Nutzenbewertung onkologischer Arzneimittel – Analysen und Stellungnahmen.
https://www.dgho.de/publikationen/schriftenreihen/fruehe-nutzenbewertung - Prasad V, Kim C, Burotto M, Vandross A. The Strength of Association Between Surrogate End Points and Survival in Oncology. JAMA Internal Medicine. 2015.
- European Medicines Agency (EMA): Use of surrogate endpoints in oncology.
https://www.ema.europa.eu/en/human-regulatory/research-development/scientific-guidelines/oncology
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Christian J. Becker
Diplom-Oecotrophologe
(Gesundheitsjournalist, Healthcare- und Food-Blogger)
E-Mail redaktion@homoeopathiewatchblog.de
Hamburg
Telefon +49 40 228 60 148
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PRESSERESONANZ BLOGS
• Schweizer Fernsehen SRF berichtet über Homoeopathiewatchblog, 17.4. (Link)
• „PR-Berater, der für die Homöopathie kämpft“, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29.10.18
• „Ex-DocMorris-Sprecher kämpft für Homöopathie“, Apotheke Adhoc, 29.9.18
• Auszeichnung von Radiosender Hamburg Zwei
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